Mittwoch, 10. Januar 2018
Das einzig Beständige ist die Veränderung
Zwei Busstunden entfernt von Sydney liegt Rouse Hill House & Farm; dorthin fahren wir heute.

Stell dir vor, du lebst im Haus deiner Ururgroßeltern. Dein Ururgroßvater Richard hat als einer der ersten Siedler das Glück, ein großes Stück Land zu bekommen. Er macht es urbar und baut ein Haus, das er 1824 oder 1825 mit seiner Familie bezieht. Richard ist erfolgreicher Unternehmer und Pferdezüchter. Dein Urgroßvater Edwin erbt das Haus, stirbt früh und vererbt es weiter an deinen Großvater Ted, der zu diesem Zeitpunkt erst zwölf Jahre alt ist. Der erwachsene Ted führt mit deiner Großmutter Bessie ein großes Haus, bis die Weltwirtschaftskrise die Familie finanziell ruiniert. Wir schreiben das Jahr 1920, Haus und Grundstück sind immer noch gut in Schuss und elf Jahre später erben deine Mutter Nina und deine Tante Kathleen alles. Nina behält das Haus, den Garten und ein paar Koppeln. Seit 1931, du bist siebenundzwanzig Jahre alt, arbeitest du auf der Farm. 1934 heiratest du und ihr bekommt drei Kinder.



Du lebst also in diesem Haus mit deiner Familie und deiner Mutter Nina, die 1968 stirbt. Die Kinder gehen aus dem Haus, deine Frau stirbt 1984. Ganz allein bleibst du zurück in einem Haus, das einst voller Menschen war. So viele Kinder sind hier groß geworden, immer wieder wurden Gäste bewirtet, hier fanden Konzerte und Jagdgesellschaften statt. Jede Generation gestaltete das Haus um, baute an und um. So viele Menschen arbeiteten im Haus und auf dem Hof, ihr ward erfolgreiche Pferdezüchter, eure Pferde gewannen viele Preise. Und nun bist du ganz allein.



Die letzte gründliche Renovierung des Hauses ist ungefähr hundert Jahre her; Wandfarbe und Tapeten des Schlafzimmers im Obergeschoss stammen aus dem Jahr 1885. Es riecht muffig und in allen Zimmern hat sich so viel angehäuft, dass du nur noch ein oder zwei Zimmer des Hauses nutzen magst. Überall Möbel, Bilder, Erinnerungsstücke aus sechs Generationen – man könnte dich einen Messie nennen. Aber wohin mit all den Dingen, die dir lieb und teuer sind? Auch deine Mutter, deine Großeltern und alle, die vorher hier lebten, mochten sich nicht von den Dingen trennen. So häufte sich Ding auf Ding, der Fernseher aus den Sechzigern steht neben der antiken Kommode aus dem neunzehnten Jahrhundert. Inzwischen sind die Räume so vollgestopft, dass kaum ein Durchkommen ist.



Eines Tages, wir schreiben das Jahr 1978, du bist inzwischen vierundsiebzig Jahre alt, entdecken Historiker die Schätze in deinem Haus. Im Laufe der nächsten Jahre katalogisieren sie über zwanzigtausend Einzelstücke und von Zeit zu Zeit öffnen sie dein Haus für die Öffentlichkeit. Du wohnst weiter in deinem kleinen Bereich, bis du 1993 in ein Seniorenheim ziehst und 1999 stirbst. Nach deinem Tod wird das Haus zum Museum, das Anja und Arnd heute besichtigen.

Die Sammelleidenschaft dieser Familie beeindruckt und erschreckt zugleich. Wann beginnt es bei alten Leute eigentlich wie bei alten Leuten zu riechen? Im Haus, das wir nur im Schnelldurchgang besichtigen können – zu groß ist die Angst der Historiker vor weiterem Verfall – riecht es nach Vergangenheit. Goethe sagte: „Das Leben gehört dem Lebendigen an und wer lebt, muss auf Wechsel gefasst sein.“ Rouse Hill House lebte, solange es sich veränderte. Irgendwann ist es gestorben.

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